Freitag, 12. Juli 2019

Joseph Conrad - Das Herz der Finsternis

(...)
Der Tag ging in stillem Glanz zu Ende. Die Wasserfläche leuchtete friedlich; der Himmel, fleckenlos, erweckte den Gedanken, an selige, strahlende Unendlichkeit; sogar noch der Dunst über der Essexmarsch erschien als ein lichtes Schleiertuch, das von den waldigen Höhen landeinwärts niederwallte und die flachen Ufer hinter durchsichtigen Falten verbarg. Nur der Dunst im Westen, über dem Oberlauf des Flusses, wurde mit jeder Minute düsterer, als erzürnte ihn das Nahen der Sonne. Und schließlich sank die Sonne tief ans Ende ihrer Bahn, wechselte von blendendem Weiß zu tiefem Rot, ohne Strahlen und ohne Hitze, als wollte sie plötzlich verlöschen, zu Tode getroffen von der Berührung mit der Dunstwolke, die über einem Menschenhaufen brütete.
Die Sonne sank, die Dämmerung brach über den Strom herein, und längs der Ufer begannen Lichter aufzutauchen. Der Leuchtturm von Chapman, der auf seinen drei Beinen kerzengerade auf einer Morastbank stand, gab grelles Licht. Schiffslichter kreuzten durch das Fahrwasser – ein Gewimmel von Lichtern, die auf und ab wanderten. Und weiter weg, im Westen, gegen den Oberlauf des Flusses zu, war die ungeheure Stadt immer noch am Himmel zu merken; ein brütender Dunst im Sonnenschein, ein düsterer Glanz unter den Sternen. (...)
Aus: Conrad, Joseph. Das Herz der Finsternis (99 Welt-Klassiker) (German Edition) (S.3). Null Papier Verlag. Kindle-Version.

Donnerstag, 2. Mai 2019

Novalis - Hymnen an die Nacht - Einst da ich bittre Tränen vergoß

Einst da ich bittre Tränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg – einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben – kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch. – Wie ich da nach Hülfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschten Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: – da kam aus blauen Fernen – von den Höhen meiner alten Seligkeit ein Dämmerungsschauer – und mit einem Male riß das Band der Geburt – des Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr – zusammen floß die Wehmut in eine neue, unergründliche Welt – du Nachtbegeisterung, Schlummer des Himmels kamst über mich – die Gegend hob sich sacht empor; über der Gegend schwebte mein entbundner, neugeborner Geist. Zur Staubwolke wurde der Hügel – durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In ihren Augen ruhte die Ewigkeit – ich faßte ihre Hände, und die Tränen wurden ein funkelndes, unzerreißliches Band. Jahrtausende zogen abwärts in die Ferne, wie Ungewitter – An ihrem Halse weint ich dem neuen Leben entzückende Thränen. Das war der Erste Traum in dir. Er zog vorüber aber sein Abglanz blieb der ewige unerschütterliche Glauben an den Nachthimmel und seine Sonne, die Geliebte.

Mittwoch, 27. März 2019

Albert Camus - Hochzeit des Lichts - Boboli Gärten

In den Boboli-Gärten hängen riesige goldene Kakifrüchte in Reichweite meiner Hand. Ein zäher Sirup sinterte aus ihrem aufgebrochene Fleisch. Die sanften Hügel und die saftquellenden Früchte; die brüderlich geheime Verbundenheit mit der Erde und der Hunger, der mich nach den Goldfrüchten über mir greifen ließ - ich empfand das schwanke Gleichgewicht dieser Dinge, das gewisse Menschen von der Askese zum Genuss und von der Entsagung zu hemmungsloser Wollust treibt.

Ich bewunderte und bewundere auch heute dieses Bündnis von Mensch und Erde, diese doppelte Wechselwirkung, in die mein Herz eingreifen und seinem Glück diktieren darf bis zu jener genau bestimmten Grenze, wo die Erde es vollenden oder zerstören kann.

Florenz! Einer der wenigen Orte in Europa, wo ich begriff, dass im innersten Kern meiner Auflehnung ein Einverständnis schlief. Unter seinem aus Tränen und Sonne gemischten Himmel lernte ich, ja zur Erde zu sagen und in der düstern Flamme ihrer Lebensfeier zu verbrennen. Ich ertrug... Aber was? Welches Wort? Welches Übermaß? Ich ertrug die Erde! In diesem großen Tempel, aus dem die Götter geflohen sind, haben alle meine Idole tönerne Füße.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Felix Salten - Bambi / Nun war es Winter

Von der großen Eiche am Wiesenrand fiel das Laub. Es fiel von allen Bäumen. Ein Ast der Eiche stand hoch über den anderen Zweigen und langte weit hinaus zur Wiese. An seinem äußersten Ende saßen zwei Blätter zusammen.
»Es ist nicht mehr wie früher«, sagte das eine Blatt.
»Nein«, erwiderte das andere. »Heute nacht sind wieder so viele von uns davon . . . wir sind beinahe schon die einzigen hier auf unserem Ast.«
»Man weiß nicht, wen es trifft«, sagte das erste. »Als es noch warm war und die Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele von uns wurden damals schon weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man weiß nicht, wen es trifft.«
»Jetzt scheint die Sonne nur selten«, seufzte das zweite Blatt, »und wenn sie scheint, gibt sie keine Kraft. Man müßte neue Kräfte haben.«
»Ob es wahr ist«, meinte das erste, »ob es wohl wahr ist, daß an unserer Stelle andere kommen, wenn wir fort sind, und dann wieder andere und immer wieder . . .«
»Es ist sicher wahr«, flüsterte das zweite, »man kann es gar nicht ausdenken . . . es geht über unsere Begriffe . . .«
»Und man wird auch zu traurig davon«, fügte das erste hinzu.
Sie schwiegen eine Zeit. Dann sagte das erste still vor sich hin: »Warum wir weg müssen . . .?«
Das zweite fragte: »Was geschieht mit uns, wenn wir abfallen . . .?«
»Wir sinken hinunter . . .«
»Was ist da unten?«
Das erste antwortete: »Ich weiß es nicht. Der eine sagt das, der andere sagt dies . . . aber niemand weiß es.«
Das zweite fragte: »Ob man noch etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten ist?«
Das erste erwiderte: »Wer kann das sagen? Es ist noch keines von denen, die hinunter sind, jemals zurückgekommen, um davon zu erzählen.«
Wieder schwiegen sie. Dann redete das erste Blatt zärtlich zum anderen: »Gräme dich nicht zu sehr, du zitterst ja.«
»Laß nur«, antwortete das zweite, »ich zittere jetzt so leicht. Man fühlt sich eben nicht mehr so fest an seiner Stelle.«
»Wir wollen nicht mehr von solchen Dingen sprechen«, sagte das erste Blatt.
Das andere entgegnete: »Nein . . . wir wollen es lassen . . . Aber . . . wovon sollen wir denn sonst sprechen?« Es schwieg und fuhr nach einer kurzen Weile fort: »Wer von uns beiden wohl zuerst da hinunter muß . . .?«
»Damit hat's noch Zeit«, beschwichtigte das erste. »Erinnern wir uns lieber, wie schön es war, wie wunderbar schön! Wenn die Sonne kam und uns so heiß brannte, daß man zu schwellen glaubte vor Gesundheit. Weißt du noch? Und dann der Tau in den Morgenstunden . . . und die linden, herrlichen Nächte . . .«
»Jetzt sind die Nächte furchtbar«, jammerte das zweite, »und nehmen kein Ende.«
»Wir dürfen, uns nicht beklagen«, sagte das erste mild, »wir haben länger gelebt als viele, viele andere.«
»Ich bin wohl sehr verändert?« erkundigte sich das zweite Blatt schüchtern, aber dringend.
»Keine Spur«, beteuerte das erste, »du glaubst wohl, weil ich so gelb und häßlich geworden bin. Nein, bei mir ist das etwas anderes . . .«
»Ach, geh«, wehrte das zweite ab.
»Nein, wahrhaftig«, wiederholte das erste voll Eifer, »glaub' mir doch! Du bist so schön wie am ersten Tage. Hier und da vielleicht ein kleiner gelber Streifen, kaum zu merken, und er macht dich nur noch schöner. Glaub' mir doch!«
»Ich danke dir«, flüsterte das zweite Blatt gerührt. »Ich glaube dir nicht . . . nicht ganz . . . aber ich danke dir, weil du so gut bist . . . du bist immer so gut zu mir gewesen . . . ich begreife es jetzt erst ganz, wie gut du warst.«
»Schweig doch«, sagte das erste und verstummte selbst, denn es konnte vor Kummer nicht mehr reden.
Nun schwiegen sie beide. Die Stunden vergingen. Ein nasser Wind strich kalt und feindselig durch die Baumwipfel.
»Ach . . . jetzt . . .« sagte das zweite Blatt, » . . . ich . . .« Da brach ihm die Stimme. Es ward sanft von seinem Platz gelöst und schwebte hernieder. – Nun
war es Winter.

Dienstag, 7. Februar 2017

Christopher Fry - Über das Zeitgenössische Theater und das Urdrama der Existenz an sich. (Zitat)

Er (der Bühnenschriftsteller) forscht nach dem wahren Wesen des Menschen, nach seinem Wesen in der Komödie oder nach seinem Wesen in der Tragödie, denn jenseits des Dramas seiner Handlungen und Konflikte und Alltagsnöte ist das Urdrama seiner Existenz an sich.
 

Sein (des Menschen) Erscheinen in der Welt ist fast der großartigste Auftritt, der je ersonnen wurde, und es wird vielleicht nur noch übertroffen durch das Erscheinen des Weltalls, das ihn eingeführt hat.
 

Die unentrinnbare dramatische Situation für uns alle ist die, daß wir keine Ahnung haben, wie unsere Situation ist.
 

Vielleicht sind wir sterblich. Was dann? Vielleicht sind wir unsterblich. Was dann?
 

Wir sind in eine Existenz geworfen, die phantastisch bis zur Grenze eines Albtraums ist, und wie sehr wir unsere Vernunft auch gebrauchen, wie fest unser religiöser Glaube auch sein mag, wie dicht wir auch der Wissenschaft auf den Fersen folgen oder uns unter den Sternen des Mystizismus herumtreiben, wir können daraus nicht klug werden.
 

Aus: Christopher Fry – Ein Phönix zuviel - Über das Zeitgenössische Theater
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1954

Donnerstag, 16. Juli 2015

Jean Paul: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.

Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir, ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Turmuhr, die elf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu. An den Mauern flogen Schatten, die niemand warf, und andere Schatten gingen aufrecht in der bloßen Luft. In den offenen Särgen schlief nichts mehr als die Kinder. Am Himmel hing in großen Falten bloß ein grauer schwüler Nebel, den ein Riesenschatte wie ein Netz immer näher, enger und heißer herein zog. Über mir hört' ich den fernen Fall der Lauwinen, unter mir den ersten Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mißtönen, die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten. Zuweilen hüpfte an ihren Fenstern ein grauer Schimmer hinan, und unter dem Schimmer lief das Blei und Eisen zerschmolzen nieder. Das Netz des Nebels und die schwankende Erde rückten mich in den Tempel, vor dessen Tore in zwei Gift-Hecken zwei Basilisken funkelnd brüteten. Ich ging durch unbekannte Schatten, denen alte Jahrhunderte aufgedrückt waren. – Alle Schatten standen um den Altar, und allen zitterte und schlug statt des Herzens die Brust. Nur ein Toter, der erst in die Kirche begraben worden, lag noch auf seinen Kissen ohne eine zitternde Brust, und auf seinem lächelnden Angesicht stand ein glücklicher Traum. Aber da ein Lebendiger hineintrat, erwachte er und lächelte nicht mehr, er schlug mühsam ziehend das schwere Augenlid auf, aber innen lag kein Auge, und in der schlagenden Brust war statt des Herzens eine Wunde. Er hob die Hände empor und faltete sie zu einem Gebete; aber die Arme verlängerten sich und löseten sich ab, und die Hände fielen gefaltet hinweg. Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf sehen.

Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: »Christus! ist kein Gott?«

Er antwortete: »Es ist keiner.«

Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.

Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!«

Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.«

Da kreischten die Mißtöne heftiger – die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner Unermeßlichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der unermeßlichen Natur stand Christus und schauete in das mit tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.

Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?...

Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?«

Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt' ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermeßlichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹... Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹... Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater! – Sterblicher neben mir, wenn du noch lebest, so bete Ihn an: sonst hast du Ihn auf ewig verloren.«

Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfaßte das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern... als ich erwachte.

Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.